WESTWERK.

Konzert | Samstag | 7. September 2024 | 20:00/20:30 Uhr

Auf der Suche nach was auch immer.

PRIMZAHLEN AUS DEM BARDO ist mein keine-ahnung-wie-vieltes Album und mein erstes mit der LEUCHTTURMBAND. Es steht inhaltlich in
der Folge von
EINE ANDERE ZEIT, indem es die dort begonnenen Erzählkonzepte aufgreift und in neue Sphären führt. Einige der Protagonist:innen von damals tauchen – wenn auch stark verändert – erneut auf. Andere kommen dazu. Raum und Zeit-Strukturen
lösen sich auf in einer Wolke, Identität scheint fluide wie das Wetter, und die einzelnen Songs greifen inein-
ander wie Spin-offs, Prequels oder Nacherzählungen aus veränderter Perspektive. Gibt es eine Message? Vielleicht ist es diese: All diese Personen sind auf der Suche nach was auch immer, und das Beste (und am wenigsten Flüchtige), das sie finden können, ist Sisterhood.

Als ich vor ein paar Jahren ins Wendland zog,
weit weg von den
FLOWERPORNOES, entstand der Wunsch, auch hier eine Band zu haben – etwas regel-
mäßiges Unregelmäßiges, bestenfalls ohne große Ambitionen. Ich musste die Außengrenzen des Wend-
lands ziemlich ausweiten (im Süden bis nach Wetzlar, im Nordwesten bis hinter Hamburg) um mir diesen Wunsch zu erfüllen (und für »ohne große Ambitionen« bin ich schlicht nicht der Typ). Das Ergebnis indes war großartig: noch einmal eine Band aus Freund:innen entstehen zu sehen, ein Groupmind, das weit hinaus-
geht über die Summe der einzelnen Skills, war viel mehr, als ich erwartet hatte. Und wir hatten Glück:
Im Januar 2023 wurde ich gebeten, für das
THEATER BREMEN Songs zu schreiben, mit Regisseur JOSEF ZSCHORNAK und Teilen des Ensembles einen Italo-Pop-Abend zu ersinnen und diesen dann vierzehnmal live aufzuführen. Die Proben, die Aufführungen und
das Leben in Bremen gaben
LARS PLOGSCHTIES, ANGELA GOBELIN, BJÖRN EHLEN und mir die Möglichkeit, unter besten Bedingungen zusammen-
zuwachsen und gleichzeitig das
PRIMZAHLEN-Repertoire am Küchentisch zu entwickeln.

Als dieser Körper an Songs so angewachsen war,
dass ich begann, über Recording nachzudenken,
fing ich an, mir eine starke, zweite Stimme neben
mir zu wünschen. In meinen Recherchen stieß ich auf die Saxofonistin
LUISE VOLKMANN und wusste:
So ein Ton und so ein Gestaltungswille – das wäre es. Schüchtern und ehrfürchtig nahm ich Kontakt mit
ihr auf, schickte ihr mein Material, bot ihr an, zwei Konzerte mit mir und der Band zu spielen, um zu
hören und zu wissen – und freute mich wie eine Schneekönigin, als Lui tatsächlich ja sagte. In gewisser Hinsicht dokumentiert sich im Zusammenspiel mit ihr und dem psychedelischen Folk-Rock der Band meine alte Liebe zum spirituellen Jazz der Spätsechziger und Siebziger (in
MARI ON zum Beispiel verschmilzt mein van der Beeksches Alter Ego erzählerisch mit dem späten DON CHERRY). Luises Beitrag aber darauf
zu reduzieren, stellt ihre Inselbegabung allerdings erheblich unter den Scheffel. Das Ergebnis unserer Zusammenarbeit ist ziemlich einzigartig, ziemlich weit draußen
UND wunderwunderschön. Wer deutsche Texte und/oder Saxofon nicht mag, der kann es hier noch mal probieren, rief irgendwer zum offenen
Fenster rein.

PRIMZAHLEN AUS DEM BARDO ist zeitlich angesiedelt zwischen der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und einer nicht weit entfernten Zukunft, vielleicht 2040. Die auftretenden Protagonist:innen
wie die Ehepaare Tolkien, Czechov und Debussy, die kleinen Gangsterrapper Lil Kill und Lil Die, Luzie, Kerlchen und Marion aka Space Czechovs, Lars Jaegerer und seine Lotte, Adam Lovesz, der so gar nicht greif-
bare Tommy de Who, die manchmal überlebensgroße und dann wieder erbarmungswürdige Mari On, die 

vom Schicksal verfolgte Christiane – sie alle sind mit historischer Ungenauigkeit gezeichnet und eher arche-
typische Stellvertreter:innen ihrer Entscheidungen
mit von dort aus weiter gesponnenen Eigenleben. Handlungsort all dessen ist ein Europa mit weichen Umrissen und Geistern und Dämonen, die trennen und vereinen. Norwegen, Dänemark, Italien, Frankreich, Holland und Schweden kommen als Bühnen vor, ihre Grenzen verschwimmen wie die Identitäten und Geschlechterrollen der Protagonist:innen.

Ich traf die Entscheidung, auch PRIMZAHLEN
AUS DEM BARDO
in meinem Haus aufzunehmen
(wie schon
DER, DEN MEIN FREUND KANNTE, EINE ANDERE ZEIT und Teile des FLOWERPORNOES-Albums MORGENSTIMMUNG), und bat meine Freun-din und Lieblingstonmeisterin ANTJE VOLKMANN (keine Verwandtschaft mit Luise), uns zu produzieren. Zusätzlich zur bewährten LEUCHTTURMBAND luden wir STEFAN SAINT HORLITZ ein, den ja leider schon lange verstorbenen CLAUDE DEBUSSY am Vibrafon zu ersetzen. Vierzehn Songs und eine Handvoll Impros (von denen einige mit Spoken Words zu Bonusmaterial wurden) waren nach einer Woche inspirierter Arbeit in der Kiste – mehr Material, als auf eine gewöhnliche CD passt. PRIMZAHLEN ist ein opulentes Doppelalbum geworden. Aber warum PRIMZAHLEN? Warum BARDO?

Nicht weit weg von meinem Wohnort – um
genauer zu sein: zwei Dörfer weiter, in Breselenz – ist am 17. September 1826 einer der genialsten Typen der Mathematik-Geschichte geboren: Bernhard Riemann. Eins seiner Spezialgebiete war die Ausbreitung der Primzahlen in der Abfolge der natürlichen Zahlen. Primzahlen, bekanntlich nur durch eins und sich selber teilbar, stellen, ähnlich den Atomen in der Physik, das Skelett der Mathematik dar. Sie sind das Material, aus dem sich alle anderen Zahlen zusammensetzen. Ganze Generationen von Mathematikern haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie es sein kann, dass eine solch essenzielle Spezies sich so scheinbar ungeordnet über den Zahlenstrahl verteilt. Manchmal wirken Dinge nur so lange ungeordnet, bis das Muster erkannt wird. Manchmal gibt es kein Muster, aber trotzdem eine Ordnung. Was Riemann herausfand, war (verkürzt), dass die Zufälligkeit des Auftretens der Primzahlen annähernd exakt der Zufälligkeit (genauer: dem Ver-
hältnis von Zufall und Wahrscheinlichkeit) entspricht, die wir auch in der Natur vorfinden. Ob dies für die komplette (angenommen unendliche) Menge an Primzahlen gilt, kann logischerweise nicht bewiesen werden. Eine Handvoll Nerds ist am Thema dran, und die bisher höchste Primzahl, die sie entdeckten, ist immerhin 23.249.425 Stellen lang. Trotzdem gilt die sogenannte Riemann-Hypothese auch als Riemann-Vermutung (mit megahoher Wahrscheinlichkeit). Gibt es also einen Bauplan der Schöpfung, der angewiesen ist auf eine Vageness, wie wir sie in unseren Leben ständig erleben? Sind verschiedene Bewusstseins-
ebenen nichts anderes als unterschiedliche Rechen-
operationen mit demselben Material? Geht es am Ende gar nicht darum, Wahrheit und Narrativ in Deckungs-
gleichheit zu bringen, sondern es reicht, wenn sie sich mögen? Und was bedeutet es, von diesem neuen Platz aus betrachtet, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren? Das
BARDO (ein ursprünglich tibetisch-buddhistischer Begriff, den Raum/die Ebene/die Leere zwischen den Dingen bezeichnend) ist auch lesbar als Ort des Entstehens, der zeitgenössischen Idee von Cloud
nicht unähnlich. Es mag nicht gleich ersichtlich sein,
wo die Verbindung zwischen solch eher theoretischen Gedanken und den Erzählsträngen meines Albums liegt, aber sie sind Beispiele dafür, was mich inspiriert und den Fluss fließen lässt.

WESTWERK.

Fotos: Haik Büchsenschuss

2024

Am 21. Juli erscheint ein neues Album von Tom Liwa, »Primzahlen aus dem Bardo« – diesmal
mit einer ganz besonderen Besetzung: Luise Volkmann am Saxofon, die Leuchtturmband mit
Björn Ehlen (Gitarre), Angela Gobelin (Bass), Lars Plogschties (Schlagzeug) und Stefan Horlitz (Vibrafon). Es ist ungefähr Tom Liwas 31. Album (natürlich eine Primzahl), wir erzählen hier also
nicht noch mal die Geschichte der Flowerpornoes und so weiter oder weisen darauf hin, dass sein letztes Album, »Eine andere Zeit«, 2022 das Album des Jahres im »Rolling Stone« war und auch
im »Musikexpress«, bei »Spiegel online« Höchstwertungen bekommen hat (okay, jetzt haben wir
es doch gemacht).